Stimme
der Verstummten
"Radio Insurgente" - die
Zapatisten haben nach dem Internet nun auch den Hörfunk für sich entdeckt "Ich weiß nicht, was ich sagen
soll." Den Blick nach unten gerichtet, schwieg Luisa. Diesen Satz sollte
sie noch oft wiederholen, weil der Stoff, den sie zu lernen hatte, ihr mehr
als fremd war. Luisa wollte "Radio machen", doch Fragen zu stellen,
galt als respektlos in ihrer Kultur. Die junge Tzeltal-Indianerin fühlte sich
überfordert nach nur fünf Jahren Grundschule - spanische Grammatik kannte sie
kaum, die Interpunktion war ihr fremd. Sie las gern laut vor und sprach das Spanische
gut aus, nur verstand sie anfangs nie, worum es ging in den Manuskripten, die
man ihr gab. Ihr aktiver spanischer Wortschatz war mit der Alltagssprache
erschöpft. In der Schule hatte man nur darauf zu achten, dass vorgelesene
Texte in den Ohren des Lehrers gut klangen. Dennoch gehörte Luisa in Chiapas,
im Süden Mexikos, zur Bildungselite. Noch 2002 war hier jede zweite Frau eine
Analphabetin, bei den Männern traf das auf jeden Dritten zu. Die allermeisten Frauen, die - wie so oft in ländlichen
Gebieten Mexikos - für den Erhalt der Traditionen zuständig sind, sprechen
kein Spanisch und gingen nie zur Schule. Sie tragen das jüngste Kind auf dem Rücken,
während sie mit der Hacke Mais- und Bohnenfelder an Steilhängen bestellen.
Über 500 Jahre Kolonialismus haben von der einst blühenden Maya-Kultur mit
ihren Astronomen, Medizinern und der überlieferten Pyramidenarchitektur nur
rudimentäre Spuren hintergelassen. Zum Karneval kleiden sich die Männer in
den Dörfern wie Araber, wickeln Kefiyeh-artige Tücher um den Kopf und ziehen
lange Gewänder an. Andere bedecken ihren Hinterkopf mit einer Maske, die
einen Bart trägt – die einheimischen Männer haben kaum Bartwuchs - und reiten
auf Besenstielen mit einem Pferdekopf. Kaum einer von ihnen kann erklären,
welchem verschütteten Mythos sie dienen, der diese Rituale von ihnen verlangt. Niemand darf dich zwingen, Compa Heute lacht Luisa, wenn sie sich an die
mühseligen Anfänge ihrer Radioarbeit erinnert: "Ich begriff anfangs
nicht, warum ich das alles lernen sollte. Heute weiß ich, dass viele Leute da
draußen uns hören, und ihre Briefe deuten an, was sie denken. Wir haben in
diesem Sender gelernt, auf den Satz zu verzichten: ›Das kann ich nicht.‹ Wir versuchen
es eben." Radio Insurgente, La voz de los sin voz (=Die
Stimme derjenigen, die keine Stimme haben) - der UKW-Sender der zapatistischen
Basisgemeinden Mexikos -, strahlt pro Tag inzwischen zwölf Stunden Programm
aus, dabei Nachrichten nicht nur in Spanisch, sondern auch in den
Indianersprachen. Diese Kanal ist damit für eine ganze Region, die ansonsten
einer medialen Wüste gleicht, ein einzigartiges Fenster zur Welt. Ein alter
Bauer, der das in dieser Landschaft für Männer übliche weiße Minikleid und
den dazugehörigen Hut mit bunten Troddeln trägt, verkündet stolz: "Wir
haben jetzt sogar Nachrichten über Irak", und zeigt auf einem winzigen
Plastikglobus mit dem Finger in Richtung Mittelmeer. Radio Insurgente klingt
aus vielen Hütten - sogar wenn sie frühmorgens den oft sehr langen Weg zu
ihrer Parzelle antreten, tragen Bauern ein kleines Radio bei sich. Dem Lebensrhythmus ihrer Hörerschaft folgend,
steht Luisa ab sechs Uhr morgens an den Reglern eines Mischpults: "Liebe
Hörerinnen und Hörer. ›Radio Insurgente‹ begrüßt Sie mit dem heutigen Programm.
Wir wünschen allen, die heute aufs Feld gehen, eine reiche Ernte und einen
milden Tag. Vergessen Sie nicht, am Nachmittag um 17 Uhr erwartet Sie wie jede
Woche unser Hörspiel. Heute eine Geschichte in Tzotzil." Dann wiederholt
sie den Text in Tzeltal, ihrer Muttersprache, und legt eine CD ein. Inzwischen werden neu einlaufende Nachrichten
an die Übersetzer verteilt, damit sie wie üblich in drei Sprachen verlesen
werden können. Da regelmäßig gegen elf Uhr der Strom ausfällt, muss der
Generator vorbereitet werden, das Beschaffen von Benzin kann in Chiapas
länger dauern. Antonieta wird mit Pedro sprechen, dem Techniker der Radio- Crew,
damit er sich rechtzeitig kümmert. Dann fehlt für das Vormittagsprogramm am
nächsten Tag noch ein Interview mit einer Gesundheitserzieherin über Reproduktion
und Verhütung. Zwischendurch sitzt eine der Frauen nur da und
stickt bunten Kreuzstich auf weißen Stoff, die traditionelle Tätigkeit der Tzotzil-
und Tzeltal-Indianerinnen. Ein Huipil, eine Frauenbluse, nimmt je nach Muster
oft mehrere Monate Arbeit in Anspruch, bis sie anprobiert werden kann.
Inzwischen ist das Programm von Radio Insurgente fest in Frauenhand. Tagsüber
laufen Spots wie: "Hallo Frau, träumst Du von einer schönen Zukunft? Wir
können Dir sagen, dass Du Deinen Partner frei wählen kannst und niemand Dich
zwingen darf, gegen Deinen Willen zu heiraten. Das sagt das revolutionäre
Frauengesetz der Zapatisten." Dieses "Gesetz", das 1994
bekannt gegeben wurde und der EZLN (Ejército Zapatista de Liberación
Nacional) den Ruf der ersten feministischen Guerilla einbrachte, ist weit
davon entfernt, in allen zapatistischen Gemeinden beachtet zu werden.
Mancherorts gehen Mädchen noch immer nicht zur Schule, sondern tragen statt
dessen ihre Geschwister auf dem Rücken durch den Tag, wie das immer Brauch
war. Subcomandante Marcos, Stimme des EZLN nach außen, bezeichnet mit Blick
auf die zapatistische Autonomie Chiapas als eine Region, in der die Zeit bis 1994
Jahrhunderte lang stehen geblieben sei. Auch wenn zapatistische Botschaften
heute binnen Stunden um die Welt gingen, brauchten Veränderungen in Mexiko selbst
ihre Zeit - für europäische Maßstäbe entnervend viel Zeit. Radio Insurgente
spielt bei seinem Programm mit diesem Zeitgefühl und stößt manches
Zeitfenster auf: Nach uralter indigener Musik, die für westliche Ohren weder
melodisch noch rhythmisch klingt, gibt es übergangslos die harten Beats von
Control Machete. Bedeck dich wieder, Compa Ein paar hundert Meter vom Studio entfernt
schleppt ein Dutzend Männer, von denen kaum einer über einen Meter sechzig
groß ist, mächtige metallene Bauteile für einen Antennenturm den steilen Bergpfad
hinauf. Die Sendeanlagen von Radio Insurgente sollen an einer höheren Position
installiert werden, um die Reichweite zu vergrößern. Die Männer tragen die
schwere Last so beschwingt auf dem Rücken, als handele es sich um einen
Schulranzen. Von klein auf sind sie es gewohnt, Säcke mit Bohnen oder Mais,
die oft um die 60 Kilo wiegen, mit einem über die Stirn gelegten Band auf dem
Rücken zu halten und damit über die Berge zu laufen. Ein paar Stunden später sind die unteren
Streben des Turms auf dem Fundament montiert. Einer der Männer ist hinaufgeklettert
und zieht nun an einem abenteuerlich anmutenden Flaschenzug weitere Teilstücke
nach. "Bedeck dich wieder, Compa, dort drüben sehen die Soldaten
zu!" ruft jemand von unten, und der Kletterer rückt den paliacate über
seinem Gesicht zurecht, das bedruckte Dreieckstuch der Zapatisten, die keine schwarzen
Wollmützen über ihre Gesichter ziehen. Und wirklich: Kaum 500 Meter entfernt,
mit bloßem Auge gut zu erkennen, steht ein Beobachtungsposten der Armee mit
einigen hundert Soldaten. "Wenn die sich nur um einen Meter bewegen,
bemerken wir das hier sofort", meint Pedro, der Techniker. Die
Radio-Equipe im Studio pflegt ihren eigenen Umgang mit der Nachbarschaft.
Eine Botschaft, die täglich ins Programm eingestreut wird, richtet sich
direkt an die über 70.000 Soldaten, die in Chiapas kaserniert sind und vermutlich
schon aus purer Langeweile Insurgente hören: "Soldat, du bist so wie wir,
genauso arm. Wenn du aufhörst, Soldat zu sein, wirst du ein Leben in Würde gewinnen.
Hör auf, gegen die eigenen Leute zu kämpfen, gegen die eigene Familie oder
die Nachbarn. Lass dich nicht kaufen von den Almosen der Regierung. Verweigere
die Befehle. Schließ dich dem Leben der Aufständischen an." Nachrichten von Radio Insurgente beginnen mit
dem Satz: "Weil Unwissenheit genauso schlimm sein kann wie Wehrlosigkeit...".
Aber bewaffnet ist niemand im Studio. Es soll andere Gegenden geben, in denen
die Zapatisten mit dem Gewehr auf der Schulter und in Uniform durch den Alltag
streifen, um für den Fall gerüstet zu sein, dass der fragile "Frieden"
von Chiapas ein jähes Ende hat. Auch gibt es immer wieder Tote, die von
überregionalen Medien gern als Opfer religiöser oder familiärer
Streitigkeiten abgehakt werden, obwohl es sich zumeist um Opfer von
Landkonflikten handelt, bei denen Paramilitärs Bauern angreifen und zu
vertreiben suchen. Während die Zapatisten auf dem über Jahrhunderte in
Chiapas geltenden Kollektivbesitz bestehen, verteilt die Regierung des
Bundesstaates unter Gouverneur Salazár Mendiguchía an alle, die sich von der
EZLN lossagen, individuelle Besitztitel. Und wer Privateigentümer seiner
Parzelle ist, kann zum Verkauf überredet werden. Finanzkräftige Interessenten
für ganze Bezirke von Chiapas gibt es mehr als genug, seit die an
Naturressourcen reiche Gegend unter Federführung der Interamerikanischen
Entwicklungsbank für internationales Kapital erschlossen werden soll. Dem
entgegenzuwirken, betrachtet Radio Insurgente als seinen Auftrag. Luisa und ihre Crew kommen ihm nach, indem sie
darstellen, was die Folgen einer solchen Landnahme sein können - indem sie vor
allem auf die Praxis der Regierung eingehen, in einem Paket mit den Besitztiteln
auch Sozialleistungen anzubieten. "Gelegenheiten, unser Gewissen zu verkaufen"
- sagt Subcomandante Marcos dazu - "hatten wir genug. Dennoch halten die
Zapatisten am Widerstand fest und machen aus ihrer Armut für diejenigen, die
sehen können, eine Lektion in Sachen Würde und Großzügigkeit. Wir Zapatisten
sagen: ›Alles für alle, für uns selbst nichts‹. Und wenn wir das sagen, dann
leben wir auch danach." (Quelle: Freitag #49, 28.11.2003) -> Startseite Gruppe
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